Montag, 1. September 2008

Super Priming-Beispiel

Priming heißt ja, daß die vorherige, oft scheinbar unbeabsichtige Konfrontation mit einem Reiz dazu führt, daß spätere, reizbezogene Informationen stärker (oder sogar überhaupt) beachtet werden. Ein typisches Beispiel werden einige Blogleser kennen (wenngleich nicht alle, aus Gründen!): auch wenn sie früher schon Artikel und Interviews mit und von H.J. Markowitsch in verschiedenen Medien gesehen oder gelesen haben, stellen sie erst seither einen persönlichen Bezug dazu her (und haben einen Wiedererkennungseffekt), seit sie aus meinen Erzählungen wissen, daß das "mein" Professor bzw. "Chef" ist.

Jetzt ist mir etwas ganz ähnliches passiert. Vor kurzem las ich ja von T.C.Boyle Talk talk, wo es um eine junge Gehörlose, ihren hörenden Freund und Identitätsdiebstahl geht, also einen Haufen Zunder für ein schmales Buch. Und obwohl ich mich gut an eine Debatte erinnern kann, ob man es einem gehörlosen Paar zweier Frauen gestatten dürfe, bei der Auswahl des gleichwohl anonymen Samenspenders auf einem Gentest bestehen zu dürfen, der die Gehörlosigkeit des Kindes weitgehend garantieren sollte, habe ich mir über Gehörlose noch nicht viel Gedanken gemacht, außer natürlich, wenn sie mir in Gesellschaft begegnen. Ich verweise hierbei auf einen Notruf, den ich für einen gestürzten Gehörlosen tätigte, nachdem mir schlagartig bewußt wurde, daß auch seine Kumpanen die Feuerwehr nicht anrufen können (und plötzlich war es gar nicht so schwer, die Feuerwehr anzurufen, statt einfach weiterzugehen).


Was soll die Vorrede? Heute, erste Frühschicht seit gefühlten Ewigkeiten, steht ein Mädchen da, das ich nicht kenne, sag ich guten Tag mit Händeschütteln und meinen Namen, sie reagiert offen und erfreut, sagt aber nichts außer ihren Namen, und das auch wenig emotional. Im Laufe der Schicht registriere ich emsige und einfallsreiche Geschäftigkeit, aber an Lautäußerungen "Ja", gehauchtes "Dankeschön" (DoRo hat Bonbons verteilt) und "Hier". Wenn ich Talk talk nicht grad gelesen hätte, hätte ich noch hundert Jahre gebraucht, um draufzukommen, und hätte sie mindestens die Hälfte der Zeit lang für kommunikativ inkompatibel und vielleicht sogar arrogant gehalten. Insofern bin ich Talk talk trotz des unbefriedigenden Endes sehr dankbar, denn über die alltäglichen Diskriminierungen Gehörloser, über die eigene Welt, in der sie zwangsläufig leben und die vielen, alltäglichen Schwierigkeiten, in einer Welt der Hörenden zurechtzukommen, habe ich mir, wie wahrscheinlich fast jeder von uns, noch nicht viele Gedanken gemacht, und warum auch?

Jedenfalls habe ich spontan beschlossen, Gebärden zu lernen. Auch wenn es "nur" eine Praktikantin ist, habe ich trotzdem gerade eine nette Kollegin, die auch länger dasein und in den normalen Betrieb übernommen wird (was ich eh sehr toll finde!), und auf Dauer möchte ich micht doch zumindest reziprok verständigen können. Fingeralphabet habe ich schon bißchen geübt, komme ohne nachzuschauen bis D. Aber das Spannendste, und das fand ich aber schon beim Lernen für Entwicklung, ist doch, daß Gebärden alle Straftatbestände gesprochener Sprachen erfüllen, sowohl in linguistischer als auch in entwicklungspsychologischer Hinsicht. Gebärden sind also keine Krücke, um mittels Pantomime Anliegen zu verdeutlichen, sondern genauso zu behandeln wie die genauso unverständlichen Formen des Ungarischen. (Und die Braille ist ja auch nicht besser - neuerdings, aber unabhängig von dem Gehörlosenereignis, stehe ich gerne im Fahrstuhl und versuche mir auf den Tasten die Zahlenbraille einzuprägen... okay, das ist offenbar ein Zeichen für jetzt kommt gleich eine Zahl, und bei 1 ist auch ein Punkt, bei 2 zwei, bei 3 drei im Winkel, bei 4, und da hörts eben auf, weil man es sieht, aber mit geschlossenen Augen nicht ertastet, sinds immer noch drei, nur anders angeordnet, usw.)

Morgen will ich meine neue Kollegin mit dem ABC erfreuen, im Fingeralphabet, und mehr als ABC wird es auch nicht werden.

P.S. Man gucke sich nur die Gebärde für Faktorenanalyse an, und schon weiß man bescheid.

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