Donnerstag, 23. September 2010

Wofür brauchen "Sport"schützen Ballerwaffen?

Amok ist zunächst ein kulturspezifisches psychisches Phänomen in Indonesien und Malaysia und beschreibt eine "willkürliche, anscheinend nicht provozierte Episode mörderischen oder erheblich destruktiven Verhaltens, gefolgt von Amnesie oder Erschöpfung. Viele Episoden gipfeln im Suizid. Die meisten Ereignisse treten ohne Vorwarnung auf, einigen geht ein Zeitraum mit intensiver Angst und Feindseligkeit voraus (...)" [International Classification of Mental and Behavioural Disorders (ICD-10), German Version, WHO]

Insofern habe ich zwar das Gefühl, dass einige der als solche benannten gar keine "echten" Amokläufe waren, aber wie man es letzten Endes nennt, wenn einer aus dem Haus geht und scheinbar ziel- und wahllos Menschen tötet, ist selbst Begriffsfanatikern wie mir ziemlich egal.

Was mir nicht egal ist, sind die reflexartigen Entgegnungen der ichsachjetzmalvereinfachend Waffenlobby und ihrer Büttel, dass ja nicht die Waffe (oder das Sportschützentum an sich) das Problem sei, sondern der Mensch, der mit der Waffe losgehe und auf andere schieße; außerdem hätten wir ja in Deutschland sowieso das schärfste Waffenrecht auf der Welt, und nur weil sich Einzelpersonen nicht an das geltende Recht halten, komme es zu leider bedauerlichen Zwischenfällen, was aber niemals ein zentrales Einschließen oder gar ein Verbot von "Sport"waffen rechtfertigen könne. Typisch Deutschland, so ist auch oft zu lesen, immer alles verbieten, nicht mal "Sport" dürfe man treiben, in der Gemeinschaft, usw.

Ich bin ganz klar positioniert: Schießen ist kein Sport. Alles, was über Luftdruckwaffen hinausgeht, gehört für den zivilen Bereich verboten. Wer sich darin üben will, auf eine Scheibe mit aufgemalten Kreisen zu schießen, kann das sehr gut mit einem Luftgewehr tun. Ich habe das selbst einmal ausprobiert und habe festgestellt, dass das funktioniert. Wer Sport treiben will um des Sportes willen, kann auch Mitglied in einem der gefühlten 132.000 Sportvereine in Deutschland werden, die sich so praktischen Tätigkeiten wie Laufen, Schwimmen oder Kanufahren widmen.

Natürlich gibt es Millionen "Sport"schützen in diesem Land, die noch nicht Amok gelaufen sind oder auch nur ihre krebskranke Katze erschossen haben, um die Einschläferungskosten zu sparen.

Wenn jemand, der psychisch gestört ist und infolgedessen Rachegefühle hat, die in die Tat umgesetzt werden wollen, dann kann er sich im Normalfall ein Küchenmesser schnappen und damit losziehen. Ganz schöne Sauerei. Oder er schubst jemanden vor die U-Bahn. Das hat es in Berlin tatsächlich mal gegeben, und niemand ist auf die Idee gekommen, deswegen die U-Bahn abzuschaffen. Es ist aber gar nicht so einfach, sehr viele Menschen auf einmal zu töten, wenn man weder Sprengstoff noch Schusswaffen hat. Und anders als viele "Sport"schützen in diversen Leserbriefen behaupten ist es auch nicht ganz leicht, illegal an eine Schusswaffe zu kommen. Vor allem geht es nicht schnell, was impulsive Taten ausschließt. Aber waren denn die "Amokläufe" in den Schulen impulsiv? Eher nicht, insbesondere der Erfurter Täter hatte seine Tat geplant und nahezu inszeniert. Es plant sich aber leichter, wenn man schon weiß, dass die Waffe in Reichweite herumliegt. Zum Beispiel bei Papa im Schlafzimmerschrank.

Die aktuell besprochene Täterin ist nun wieder keine typische Amokläuferin, einfach schon weil sie weiblich, gebildet, nicht benachteiligt und angeblich nicht psychisch krank gewesen ist. Interessanterweise halte ich ihre Tat auch nicht für einen typischen Amoklauf, sondern eher für eine typische und tragische Beziehungstat. Aber wäre sie mit dem Küchenmesser noch ins Krankenhaus rübergelaufen? Und schafft es eine gewöhnliche Frau überhaupt, einen gewöhnlichen Mann, wenn der jetzt nicht gerade im Tiefschlaf ist, mit einem Messer einfach so umzubringen? Schusswaffen verkehren die Kräfteverhältnisse, einer gegen viele, Schwache gegen Starke.

Ein Kommentar, der die Sachlage mit all den legalen Waffen gut wiedergibt, beschrieb, wie ein Ehepaar abends auf dem Sofa sitzt und überlegt, ob es - rein theoretisch - morgen "einfach mal so" Amok laufen könnte. Antwort: Nein. Keine eigenen Waffen, keine Bekannten, die welche haben, usw. Bei Millionen Sportschützen im Lande ist das wahrscheinlich schon der unwahrscheinliche Zufall. Eher kennt man immer irgendjemanden mit 'ner Knarre. Schlimmstenfalls den eigenen Vater, der aus dubiosen Gründen heraus glaubt, seine Familie jede Nacht mit der Kanone unterm Kopfkissen vor Einbrechern oder der Roten Armee schützen zu müssen.

Jede Schusswaffe ist eine zuviel. Wenn die Schützenvereine nicht willens sind, in ihren Schießanlagen für eine ordnungsgemäße Sicherung der "Sport"waffen zu sorgen, muss die "Sport"schießerei eben abgeschafft werden. Im Einzelfall ist das vielleicht dramatisch, weil man kurz vor der Qualifikation zur Europameisterschaft im Ballern steht und dann nicht mehr üben kann. Der Einzelfall des unbeteiligten Getöteten ist sicherlich mindestens gleichwertig dramatisch.

Es hat vereinzelt Amokläufe ohne Schusswaffen gegeben, zum Beispiel Personen, die mit Autos in Menschenmengen rasen, oder der Messerstecher während der Eröffnung des Hauptbahnhofs in Berlin. Es liegt für mich aber auf der Hand, dass wir wegen des Risikos eines Tötungsdeliktes nicht auf das Zerschneiden von Zwiebeln verzichten können, und wenn aus der Tatsache der impliziten Tödlichkeit von Automobilen überhaupt ein Schluss zu ziehen ist, dann sollte man das Tempolimit auf den Autobahnen endlich einführen, damit könnte man wirklich mehr Leben retten als die 60, die in den vergangenen 15 Jahren durch Missbrauch von "Sport"waffen umgekommen sind.

Ich glaube ja nicht mal, dass es sich in Deutschland um eine "Waffenlobby" handelt. Es ist eher so eine typisch deutsche Vereinslobby, die in ihrem Gebaren extrem unwichtig (was interessiert es, was Leute in ihrer Freizeit so treiben?), in den Folgen ihrer Lobbyarbeit aber offensichtlich erheblich erfolgreich sind.