Dienstag, 19. Januar 2010

Das Kleinhirn, dein Freund und Helfer

Schon nach zwei Wochen hat man das Gefühl, man möchte auf keinen Fall auf irgendeinen Gehirnteil verzichten, wenn es sich irgendwie vermeiden ließe. Aber heute hatte ich einen Patienten, der im letzten Frühjahr eine Cerebellitis (Kleinhirnentzündung) hatte, und ich sage euch, Freunde, entzündet euch niemals euer Kleinhirn! Egal wie es bettelt und fleht!

Das Kleinhirn, auf den ersten Blick vielleicht unspektakulär, hat bei so vielen Prozessen im Gehirn seine Finger im Spiel, daß es bei Forschungsarbeiten mit funktioneller Bildgebung, bei der also das Gehirn in action beobachtet wird, eigentlich immer als aktiv angezeigt wird. Die gesamte unbewußte Motorik zum Beispiel wird durch einen kontinuierlichen Abgleich zwischen Körperselbstwahrnehmung, Gleichgewichtssinn und aktuell laufenden Bewegungen gewährleistet - eigentlich weiß niemand genau, wie es funktioniert, aber die entscheidende Schaltstelle dabei ist das Kleinhirn. Jeder von euch ist schonmal BEINAHE hingefallen, auf einer Treppe gestolpert oder auf einer Kante umgeknickt. Und daß es beim BEINAHE bleibt, das macht dasKleinhirn. Der motorische Cortex in unserem eigentlich fortgeschrittenen Großhirn ist dafür viel zu langsam. D.h. das Kleinhirn denkt nicht nach, und deshalb ist es sehr schnell trotz sehr vieler Informationen.

Wenn man sich das Kleinhirn entzündet, dann hat man echt die Karte Nr. 8 gezogen. Ich konnte den Patienten heute nicht mal richtig untersuchen, weil er praktisch nicht sitzen konnte, von Zeichnen oder ankreuzen ganz zu schweigen. Die Wortlisten zu lernen fand er uninteressant, was ich eigentlich auch ganz gut verstehen konnte. Er hatte große Schwierigkeiten mit dem Sprechen - motorisch, nicht inhaltlich. Er litt. Er war vor allem voll da - gefangen in einem Körper, der seinen eigenen, unberechenbaren und unbeherrschbaren Weg ging.

Hauptsache gesund bekommt hier eine ganz andere, ernstgemeinte Konnotation. Gesund bedeutet nämlich mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Gesund heißt Vertrauen in die eigene Unverletzlichkeit und nicht den Unwägbarkeiten statistischer Risiken ausgesetzt zu sein, und somit kann keiner von uns gesund sein.

Das Bettenhochhaus der Charité hat 21 Stockwerke, und auf den allermeisten befinden sich Stationen, das heißt Betten, das heißt, Patienten. Also Menschen, die so krank sind, daß man sie nicht zuhause behandeln kann. Es ist ein imposantes (wenn auch häßliches) Gebäude, und man darf davon ausgehen, daß ausnahmslos jeder der darin liegenden Patienten sich sein Leiden nicht ausgesucht, daß er sich nicht dafür entschieden hat, dort zu liegen. Niemand will mit 30 einen Schlaganfall, mit 40 eine Cerebellitis, mit 50 ein Parkinson-Syndrom und mit 60 eine Alzheimer-Demenz. Niemand will mit einer infantilen Zerebralparese (der frühere landläufige "Spastiker") auf die Welt kommen oder mit Verdacht auf juvenile ALS (das ist das, was Stephen Hawkings hat) im Virchow-Klinikum einer unbedarften Praktikantin gegenüber sitzen. Absolut niemand möchte, egal wie alt man geworden ist, am Ende nicht mal mehr wissen, was man für einen Beruf erlernt hat.

Im Falle der Cerebellitis hätte ich mir gewünscht, der Patient würde mehr als ganzheitliches Menschenwesen und weniger als neurologischer Fall behandelt werden, auch wenn die Behandlung hier in der Charité wahrscheinlich auf allen Ebenen erheblich besser ist als im Kreiskrankenhaus Hobbelow. Wie man das genau umsetzen müßte, weiß ich natürlich auch nicht. Aber eine neuropsychologische Diagnostik (vom Arzt angefordert) ist sicherlich die vorletzte Information, die man über diesen Patienten benötigt (jedenfalls für Psychologen).

Eine gute Nachricht: es gibt hier auch ein sozialpädiatrisches Zentrum, in welchem aufgrund der ebenfalls im Virchow vorhandenen Kinder-Neurochirurgie eine Neuropsychologin zugange ist, die ich neulich per fernschriftlichem Kontakt um einen Gesprächstermin anbettelte, und sie hat sich in einer sehr positiven Weise heute gemeldet. Ich werde also demnächst mit der Dame (übrigens eine Neuropsychologin mit BIELEFELDER Ausbildung!) mittagessen und eventuell sogar einer kindlichen Diagnostik beiwohnen können. Zeit habe ich ja meist genug, wie cool!

Montag, 18. Januar 2010

Liebe Bahn!

Früher, als ich noch klein war, fuhr man mit der Eisenbahn an die Ostsee. Es dauerte sechs Stunden, und die Züge waren nicht besonders sauber. Auf den Toiletten roch es schlecht, und beim "Spülen" konnte man die Schwellen von den Schienen gut erkennen, weil in der Kloschüssel ein Loch und der Zug so langsam war. Das dominierende Geräusch während der Fahrt war da-dam da- dam sowie das Klatschen der Skatspieler im nächsten Abteil.

Später war ich schon groß, hatte aber nix gelernt und deshalb für gewöhnlich Ebbe im Portemonnaie. Zudem war zwischenzeitlich die lang ersehnte Wiedervereinigung des Vaterlandes erfolgt, und mithin betrug die größte Ausdehnung nicht mehr 500, sondern mehr als tausend Kilometer. Da der Westen den Kalten Krieg gewonnen hatte, erfolgte die Berechnung der Mehrkilometer in Westmark und FriedensWestpreisen; weil man den Osten aber nicht unter den Tisch fallen lassen konnte, integrierte man Freundlich- und Pünktlichkeit der Reichsbahn in das nur kurze Zeit Deutsche BahnEN genannte Gesamtkonzept.

Vor einiger Zeit war es ungeheuer modern, alles, was in jahrelangen Steuergelderinvestitionen vom Staat aufgebaut wurde, in handstreichartigen Privatisierungsorgien den internationalen Finanzmiezekatzen zum Fraß vorzuwerfen. (Post und Telekommunikation können hier nicht erschöpfend behandelt werden, aber Ähnlichkeiten sind nicht nur zufällig.) Das Schienennetz, die Züge, die beliebten Mitarbeiter - all das war Bestandteil eines öffentlichen Unternehmens, das öffentlich agierte und öffentlich finanziert wurde. Es hatte vor allem einen öffentlichen Auftrag, der zu erbringen war, ganz ohne neumodischen Kram wie Ausschreibung und Beförderungsvertrag. Es mußte nicht mal Geld verdienen. Es mußte einfach nur dasein und einigermaßen funktionieren.

Sicherlich, auch früher gab es Witze über die Bahn. Was sind die 4 Feinde der deutschen Reichsbahn? Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Mit Recht. Ich verweise auf die Kurzgeschichte Wintergeschichte 2 von Lothar Kusche (vielleicht ist es auch Wintergeschichte 1, aber die andere ist auch lustig, nur mehr nahverkehrsbezogen). Insbesondere die Floskel Wegen des im Winter völlig unerwarteten Schneefalls ist mir bis heute ein beliebter Kalauer geblieben, und zwar mit Recht.

Und damit sind wir beim Heute.

Etwas witterungsbedingte Störungen zu nennen, das mit Schneefall und Temperaturen bis -10° einhergeht, zeigt ganz deutlich, was da für Jungspunde in den Kommunikationszentralen sitzen. Ich bin wirklich nicht sehr alt und kann mich sehr deutlich an mehrere aufeinanderfolgende Winter erinnern, in welchen es wochenlange Perioden mit nächtlichen Temperaturen um -25° gegeben hat, vom Schneefall wollen wir gar nicht erst anfangen. Ich bin in Polen mit einer Eisenbahn von Kraków nach Zakopane gefahren, die man vor lauter Eis- und Schneezapfen quasi nicht mehr erkennen konnte und an der auch an jeder Station Männer mit Äxten die gröbsten Klumpen entfernten, und trotzdem trafen wir einigermaßen pünktlich am Zielort ein, womit wir überhaupt nicht gerechnet hatten (ein Zug der deutschen Bahn hätte für die gleiche Strecke sicherlich das Doppelte gebraucht, bloß da die Reise ins Gebirge ging, wäre er vermutlich gleich ganz ausgefallen). Das aber nur als Einschub.

Kurz vor Weihnachten strich die Bahn JEDEN ZWEITEN ICE zwischen München und Hamburg (Berliner Strecke). Begründung waren das Wetter sowie die uneinhaltbaren, vom innovationsfeindlichen Bundeseisenbahnamt auferlegten Wartungsintervalle für die neigetechnikgestraften ICE-T. Inzwischen fährt seit ungefähr einem Monat jeder ICE zwischen Berlin und Köln nur einteilig, d.h. es gibt keine aneinandergekoppelten Halbzüge mehr, sondern nur einen. Begründung sind das Wetter sowie die verlängerten Aufenthaltszeiten während der innovationsfeindlich angeordneten zusätzlichen Wartungen, weil es zu lange dauere, die Züge zu enteisen. Häufig kommt es zu Verspätungen bereits an Abfahrtsbahnhöfen, weil Züge nicht rechtzeitig bereitgestellt werden, d.h. es gibt keinen Ersatzzug mehr, der vom Betriebsbahnhof losfahren könnte, wenn der eigentliche Zug warum-auch-immer erheblich zu spät kommt, und selbst wenn es ihn gäbe, fehlte es am entsprechenden Ersatzpersonal. Eine momentan beliebte Begründung für Zugverspätungen ist die dichte Zugfolge und die hohe Fahrgastdichte, wobei letztere teilweise damit gut zu erklären ist, daß es viermal solange dauert, bis alle Fahrgäste eingestiegen sind, wenn der Zug, der schon im Normalzustand sehr voll ist, nur aus der Hälfte der Waggons besteht. So wird der Schwarze Peter einmal mehr den Fahrgästen selber zurückgespielt, so wie bei der Einführung des neuen Preissystems schon einmal. Bereits damals wurden die Fahrgäste dafür bestraft, daß sie die Bahn dann nutzen, wenn sie sie brauchen, und nicht dann, wenn die Züge leer sind. Heute bekommt man per Durchsage mitgeteilt, daß der Zug bereits in Spandau zehn Minuten Verspätung hat, weil es in Hauptbahnhof so lange gedauert hat, bis sich die Fahrgäste von quasi zwei Zügen in einen gequetscht haben. Selber schuld!

Wenn das Wetter wirklich schlecht ist, und ehe Züge fahren, die von Rechts wegen in die Werkstatt gehören, hat wahrscheinlich jeder Fahrgast Verständnis für Einschränkungen, wenn er wenigstens trotzdem eine Chance bekommt, quer durch die Republik zu kommen. Aber derzeit findet etwas ganz anderes statt. Neuerdings zahlt der Fahrgast ICE-Tarif und hat nicht nur keine Chance auf einen Sitzplatz, sondern hört plötzlich Durchsagen, in denen er aufgefordert wird, den Zug zu verlassen, insofern er keine Platzkarte besitze - in Zeiten, in welchen die Bahn 4,50 für eine Reservierung kassiert. Glücklicherweise sind diese Aussagen auch mehr Ausdruck der Hilflosigkeit der Zugbegleiter angesichts der Massen in den verkürzten Zügen, als daß ein Rechtsanspruch der Bahn dahinterstünde, nur Personen mit Platzkarten befördern zu müssen - dann würde sie mit einer generellen Reservierungspflicht, wie sie in vielen Schnellzügen Europas gängig ist, besser fahren.

Was bleibt eigentlich an Gefühl nach all den Jahren Privatisierung nach dem Motto Gut gemeint ist nicht immer gut genug? Ich möchte mit der Bahn ein deutschlandweites Verkehrsmittel haben, das jeweils an definierten Punkten zugänglich ist (= Bahnhof) und in fest definierten Zeitfenstern die Republik durchschreitet (= Fahrplan). Die Fahrpreise sollen so gestaffelt sein, daß es auch bei der längsten anzunehmenden Strecke durch die Republik (= Flensburg-Regensburg) kein Monatsgehalt kostet, mit der Bahn zu fahren. Eine preiswerte Bahncard (schweizerisch: Halbtax) würde der Bahn kalkulierbare Aboeinnahmen einbringen. Eine am Bedarf orientierte Fahrplan- und Zugpolitik würde das Interesse an der Bahn erhöhen und mehr Zufriedenheit garantieren. Ein ICE sollte nur dann ICE-Preise kosten, wenn er ICE-Leistung erbringt, nämlich Sitzplatz plus Schnelligkeit plus Pünktlichkeit plus Freiheit vor Unruhebolden, die sich in einem öffentlich Fernverkehrsmittel nicht adäquat benehmen können. Wenn ich im Gang sitze und meine Arbeit nicht erledigen kann, die in den zwei Stunden Fahrt eingeplant war, dann soll ich auch bloß Regionalexpreß bezahlen müssen, im Ernst.

Im Moment erscheint mir die Bahn als immer-noch-Monopolist, der nicht mehr den Katzbuckel vor dem Steuerzahler machen muß, weil ja alles privatisiert ist. Also auch sehr arrogant, und eigentlich, seit sie ihre Fahrpreiserhöhungen nicht mehr mit dem zuständigen Minister diskutieren müssen, schlimmer als je zuvor.

Liebe Bahn! Bitte werde wieder cool. Ich will mit dir überallhin fahren. Aber es geht einfach nicht, daß es schon nach Kopenhagen 500 Öre zu zweit kostet, und dann will man ja noch weiter nach Stockholm. Für das gleiche Geld kann man wochenlang sonstwohin fliegen, oder man läßt es ganz bleiben und macht sich einen netten Sommer in Bielefeld. Es kann nicht sein, daß Temperaturen mit nächtlichen -10° als sibirisch eingestuft werden und Züge systematisch ausfallen, während der Rest auch viel zu viel verspätet ist. Es geht nicht, daß lange Enteisungszeiten als Begründung für dann fahren wir gar nicht erst herhalten müssen. Und wie kann ein Zug wegen dichter Zugfolge eine halbe Stunde verspätet sein, wenn die Hälfte der Züge auf der Strecke gar nicht fährt? Das kommt mir ein bißchen vor, als möchtest du mich für dumm verkaufen!

Dienstag, 12. Januar 2010

Go friday


Go neuro

Heute war Frühbesprechung.

Das ist so eine Art Teamtreffen, einmal in der Woche, wo der Chef und seine Granden zum Rapport bitten vortanzen lassen, und alle haben was davon.

Heute gab es eine Fallkonferenz, d.h. der Doktor mit der unleserlichen Handschrift (wir üben uns regelmäßig in graphologischen Gutachten) stellte eine Patientin vor, die ein seltenes Syndrom mit dem schönen Namen Bálint-Syndrom zu haben scheint, vielleicht ist es aber auch was ganz anderes, höchstwahrscheinlich aber immerhin keine Alzheimer-Demenz.

Prinzipiell war die Veranstaltung offensichtlich dafür gedacht, mir den Sex-Appeal von Neurologen vorzuführen. Im Ernst: Der Chef und seine beiden Helferlein sitzen da durchaus wie die beiden alten Herren in der Muppetshow (bloß daß sie nicht alt sind). Und aber, neue Generationen eroberten Chefarztsessel, die Gesprächsführung ist kooperativ und konstruktiv, von Alphatiergehabe ist nichts zu spüren. Witzigerweise wird eine kleinere Runde im Benjamin-Franklin-Krankenhaus Steglitz, das der Charité angegliedert wurde, per Skype zugeschaltet. "Hallo, Steglitz, könnt ihr uns hören?", brachte heute ein paar Lacher (trotz der frühen Stunde).

Dann hatte ich meinen zweiten Patienten. Meine erste Patientin gestern litt vor allem unter Logorrhoe, d.h. mehr leidet ja in der Regel die Umwelt, in diesem Falle also ich. Diese Logorrhoe war auch auf dem Anmeldungszettelchen von Dr. Herbst, dem Mann, dem Graphologinnen nicht vertrauen, hübsch unter Besonderheiten vermerkt. Lesbar. Der heutige Patient war insofern nett, als daß er trotz seines erheblich fortgeschrittenen Alters nicht nur nicht dement, sondern überhaupt erfrischend aktiv und lebendig war. Fragen nach dem Datum und dem Stadtbezirk  konnte er besser beantworten als so mancher Sechzigjähriger in den letzten Tagen, und bei der Frage nach der Bundeskanzlerin fragte er vor der korrekten Antwort schmunzelnd, ob er das wirklich wissen müsse. Ach, der war schon sehr fit! Morgens im Bett mache er immer seine Gymnastik, "allein, nicht was Sie vielleicht denken", was auch immer ich mir unter morgendlich allein im Bett durchgeführter Gymnastik vorstellen mochte. Er nahm ASS und Gingko-Präparate ein. Wahrscheinlich braucht man ein überdurchschnittliches Ausgangsniveau, ein paar Pseudo-Gedächtnispillen und regelmäßige Gymnastik, und dann wird man nicht dement und bleibt sogar nett, insofern man jeden Morgen für sich und die Frau das Frühstück bereitet. Letzte Woche hingegen war einer im ähnlichen Alter da, den hatte es schon schwer erwischt. Jetzt habe ich mal den Unterschied gesehen - in der Jugend kannst du die Leute nach Jahrgängen klassifizieren. Im Alter ist die Leistungsfähigkeit viel variabler, und das, obwohl ja einige auch schon gestorben sind!

Morgen bin ich wieder im Virchow. Also, man muß mir immer eine Woche mit möglichst wenig Anforderungen geben, und dann wird schnell alles gut. Aber zwei Tage lang zweifle ich selber daran, ob es so eine gute Idee war, mich als Praktikantin zu nehmen ;-).

Schneller noch als in die Praktikantinnenrolle zu schlüpfen habe ich mich an Berlin gewöhnt und daran, hier unterwegs zu sein. Und das trotz der Schneeberge! Keine Passanten kommen mir ins Gehege. Ich achte grad extra drauf, aber niente. Man kann intuitiv besser überholen, selbst bei den eingeschränkten Verhältnissen auf den teilgeräumten, eher festgetrampelten Bürgersteigen. Und überhaupt wächst meine Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit rapide. Überallher kommen Informationen, und sie werden knackig verarbeitet und integriert. Eine Fähigkeit, die in Bielefeld offensichtlich verkümmert und hier nun wieder zu neuem Leben erwacht.

Mittwoch, 6. Januar 2010

Go East

Berlin ist kalt. Überall stapelt sich der Schnee, und niemand macht sich mehr die Mühe, ihn irgendwie wegzuschaffen. Man hat einfach abgewartet, bis er festgetrampelt wurde und in Verbindung mit einigen Splitkörnchen eine einigermaßen zuverlässig begehbare Oberfläche gebildet hat.


Das Bettenhochhaus der Charité in der Luisenstraße ist nicht ganz so alt wie ich, sieht aber von außen wesentlich ramponierter aus, wenn ich das in aller Bescheidenheit so sagen darf. Wenn man drinnen arbeitet, kriegt man vom ramponierten Äußeren aber nichts mit und kann dafür ganz ungeniert einen herrlichen Ausblick auf alles genießen - Hauptbahnhof, Reichstag, Potsdamer Platz, Regierungsviertel und alles, bis zum Turm vom Flughafen Tempelhof. Innen ist auch alles - Patienten, deren Besucher, Studenten, Praktikanten, Ärzte, Pfleger, Assistenten, Putzfrauen (bei den anderen sind auch Frauen dabei); im Fahrstuhl wird gegrüßt; in der Verwaltung herrscht die gefährliche Mischung aus DDR, Preußentum und Berliner Schnauze. 


Schon nach drei Tagen und vier Patienten, die ich selber zu Gesicht bekommen habe, spüre ich, wie sehr diese Wende und der nachfolgende Anschluß an die BRD Biographien und Vertrauen zerstört haben. Die wollten mich nich mehr, die wollten uns bloß loswerden, die hatten dann keene Verwendung mehr für uns, die ham mich vorher rausjeschmissen. Diese Menschen sind deswegen nicht depressiv oder verzweifelt; sie beklagen sich nicht - aber eins ist klar: die Fete 1989 war den Kater 1990 ff. nicht wert. 


Meine Chefin mag die Berliner nicht, und schon gar nicht die aus dem Osten. Sie sagt, sie hätten Schnauze, aber kein Herz. Ich sehe das naturgemäß anders, und ich entdecke auch immer wieder Beispiele (genauso, wie sie wahrscheinlich auch immer Beispiele, die ihre Hypothese untermauern, findet). Ich bin froh, hier zu sein und ausgerechnet hier erstmals ernsthaften Patientenkontakt zu haben, wo ich dann wenigstens die Hintergründe und Geschichten ohne weiteres nachvollziehen kann. Ich jedenfalls mag die Berliner, die einem wenigstens nicht vor den Füßen rumhampeln, sondern in der Regel wissen, wohin sie wollen, und das auch zügig in die Tat umsetzen. Sie haben praktische, witterungsgemäße Kleidung an, weswegen ihnen häufig mangelndes Modebewußtsein nachgesagt wird. Was für ein lächerlicher Einwand! Als wenn Modebewußtsein irgendein höheres, erstrebenswertes Ziel wäre, im Vergleich zu keine Lungenentzündung. Gut aussehen kann man auch in alten Skijacken, sofern man gut aussieht. Wenn man nicht gut aussieht, machts eine dünne BOSS-Jacke auch nicht wett. Ach, und ich berliner natürlich wie wild. Die Prinzessin wird sich freuen. 


Die als inspirierend erwartete WG mit Finnin und Italienerin war bislang zur Hälfte nicht vorhanden (in Form der erst morgen eintreffenden Italienerin) und zum Teil anstrengend, weil die Finnin einen finnischen Freund da hatte, der anstrengend war (und der von ihr auch als anstrengend empfunden wurde), und zudem ebenbesagte Finnin auch an jeder Ecke und zu jeder Uhrzeit mitteilt, wie sie und Erika es mit den Haaren im Duschabfluß halten würden und daß sie nunmehr nicht wüßte, wo sie ihr Handtuch hinhängen sollte. Da mein Englisch noch eingeschränkter ist als auch schon, wenn ich selber angeschlagen bin, habe ich viele ihrer Informationen noch gar nicht richtig verstanden, und das ist wahrscheinlich gut so. Von wegen schweigsame Finnen... puuuuh.