Samstag, 20. März 2010

Kleider und IQ-Punkte machen Leute

Zwei Patienten, wie sie gegensätzlicher nicht sein können, und doch sollten sie beide einen Platz in einer Gesellschaft haben, die großen Wert auf die Menschenwürde und den Gleichheitsgedanken legt.

Der eine, ein überdurchschnittlich begabter Betriebswirtschaftler, erleidet unschuldig einen Verkehrsunfall, infolgedessen er Rippenbrüche und einen Darmabriß erleidet. Nach unzähligen Operationen, ist er inklusive des freilich nun verkürzten Darmes einigermaßen wiederhergestellt und versucht über das Hamburger Modell die Wiedereingliederung in den Beruf. Einen Tag vor der Untersuchung hat er seinen positiven Erwerbsunfähigkeitsrentenbescheid bekommen.

Der andere ist nur wenig älter, hat nach acht Schuljahren die Sonderschule verlassen und nie eine ordentliche Ausbildung erhalten. Da er aus irgendeinem Grunde vor dreißig Jahren von einer Brücke auf ein S-Bahn-Gleis fiel und sich bei der Gelegenheit die Wirbelsäule brach, ist er für die im ungelernten Bereich üblichen körperlichen Arbeiten wenig geeignet, und andere Arbeit gibt es für ihn nicht. Trotzdem sitzt er nach wie vor auf Hartz IV. Ein Rentenantrag wird abgelehnt, während der Verhandlung über den Widerspruch äußert ein Gutachter, daß Bewohner des Stadtbezirks Neukölln ja wohl selber schuld seien, wenn sie da lebten und vor die Hunde gingen.

Wer mich kennt, wird sich lebhaft vorstellen können, daß ich da an die Decke gehe.

Wenn mir Herr Westerwelle auch nur einen Job zeigen könnte, der für den zweiten Patienten geeignet wäre und zur Verfügung stünde, dann würde ich seine Auslassungen nachvollziehen können. Welcher Zacken dem Sozialstaat im übrigen aus der Krone bräche, wenn der zweite Patient sein 300 Öre Frührente bekäme, bleibt mir übrigens ebenfalls unklar.

Beide Patienten sind von ihren Voraussetzungen her nicht gleich, aber sie sollten, nach dem Grundgesetz, vor dem Gesetz und dem Sozialstaat neben allen seinen Auswüchsen gleich behandelt werden. Werden sie aber nicht. Einer ist intelligent, eloquent, in adäquate Textilien gehüllt und kennt seine Rechte. Der andere trägt eine zu enge Jeans und viel Blech im Gesicht, kann sich keine drei Wörter merken und hat einen Intelligenzquotienten an der Grenze zur geistigen Behinderung. Dann darf er sich noch von einem amtsmüden und offensichtlich ungeeigneten Gutachter anhören, daß er sich das mit Neukölln ja mal hätte besser überlegen können! Ich glaub', es hackt! Der Gutachter sollte mir nicht im Dunkeln oder überhaupt irgendwo begegnen!

Der erste Patient, der im übrigen ja trotzdem auch eine arme Sau ist, mit wahrscheinlich dauerhaften und durchaus spürbaren Beeinträchtigungen, hat nun die Wahl: sich mit Mitte vierzig zur Ruhe setzen, die EU-Rente genießen und reisen oder sonstwie nett leben? Oder doch arbeiten gehen, die Belastungsfähigkeit austesten, was leisten. Sonst zählt ja hierzulande nichts.

Der zweite Patient hat keine Wahl. Ich hab ihm mal, weil das ja offensichtlich sonst keiner macht, den sozialpsychiatrischen Dienst von Neukölln rausgesucht und aufgeschrieben. Ich hoffe er meldet sich da. Zwingen kann man ihn ja, gottseidank, nicht.

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