Samstag, 6. März 2010

Seltsame Häufungen

Am interessantesten an der ganzen Arbeit ist sicherlich das Phänomen, dass es in einigen Wochen immer wieder irgendwelche Häufungen zu beobachten gibt. Da man am Tag niemals mehr als drei Patienten zu Gesicht bekommt, kann es nicht an einer verzerrten Aufmerksamkeit infolge eines Einzelerlebnisses liegen.

Noch zu Beginn hatte ich mehrmals Opis, die Demenzangst hatten, aber über 80 und fit wie Turnschuhe waren. Nur einer hingegen war wirklich dement. Dann hatte ich tagelang Leute, die aus unterschiedlichen Gründen Gesichtsfelddefekte hatten. Zwischendurch hatte ich eine plötzliche Aphasie-Häufung, d.h. die Patienten hatten aktuell keine Aphasie, aber entweder Sprachprobleme, oder sie waren in der Vergangenheit aphasisch gewesen, z.B. infolge Schlaganfall (die Häufung war so auffällig, dass ich dringend eine Aphasie-Checkliste finden mußte, weil ich mit dem behämmerten Aachener Aphasietest ja sowas von nicht zurechtkam - man stelle sich das einmal vor: ich untersuche die Patientin mit dem anderen Gedöns, und die Lieblingsmitpraktikantin liest sich eben in die AAT-Handhabung ein!). Nach Wochen ohne einen einzigen weiblichen Patienten rennen mir die Damen fast die Türe ein, so daß ich zwischendrin kurz überlegen mußte, wann ich eigentlich das letzte Mal einen Mann untersucht habe.

Einen Tag sitze ich in der Straßenbahn inmitten einer französischen Klassenfahrt. Am nächsten Tag erklimmt ein zweisprachig-deutsch-französisch-Kindergarten die Bahn, und in der Mensa gibt es Coq à vin. Eine Woche später fahre ich mit der M4, begleitet von einer Rotte russischer Punks, die sich über die Alkoholgehalte verschiedener Wodkamarken unterhalten. Auf russisch natürlich. Gleichen Tags haben wir einen russischen Patienten, der von seiner dolmetschenden Tochter begleitet wird, die während der Untersuchung kaum im Zaum zu halten ist. Die Mensa bringt Soljanka.

Wenn es seltsam anmutende Antworten gibt in den Testverfahren, dann häufen sie sich tageweise. In einer Wortflüssigkeitsaufgabe müssen binnen einer Minute so viele Tiere aufgezählt werden, wie den Patienten eben einfallen. An einem Tag war die erste Nennung zweimal Rhinozeros, sonst kam das Tier nie vor. Auch die Nennung anderer ungewöhnlicher Tiere häuft sich jeweils nach Tagen. So gab es an einem Tag zweimal die Reihung Ameise - Bär - Ameisenbär, sonst niemals, selbst wenn die beiden ersten Tiere genannt wurden. Auch in einer anderen Aufgabe, bei der einfach Bilder von Objekten benannt werden sollen, kommt es zu tagesformabhängigen Gleichnennungen: Die im letzten Bild zu sehenden Dominosteine wurden jeweils, im Brustton der Überzeugung, mit dem Ausruf Mikado! begrüßt. (Dann nicht laut loszulachen ist schwer. Tip: Das Prusten unterdrücken, das Lächeln nicht. Und anschließend kurz mit dem Patienten darüber sprechen, warum ihm das Mikado zuerst eingefallen ist, und den Begriff des semantischen Feldes erobern.)

Ich liebe diesen Beruf. Er ist bloß schwer zu erlernen.

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