Montag, 18. Januar 2010

Liebe Bahn!

Früher, als ich noch klein war, fuhr man mit der Eisenbahn an die Ostsee. Es dauerte sechs Stunden, und die Züge waren nicht besonders sauber. Auf den Toiletten roch es schlecht, und beim "Spülen" konnte man die Schwellen von den Schienen gut erkennen, weil in der Kloschüssel ein Loch und der Zug so langsam war. Das dominierende Geräusch während der Fahrt war da-dam da- dam sowie das Klatschen der Skatspieler im nächsten Abteil.

Später war ich schon groß, hatte aber nix gelernt und deshalb für gewöhnlich Ebbe im Portemonnaie. Zudem war zwischenzeitlich die lang ersehnte Wiedervereinigung des Vaterlandes erfolgt, und mithin betrug die größte Ausdehnung nicht mehr 500, sondern mehr als tausend Kilometer. Da der Westen den Kalten Krieg gewonnen hatte, erfolgte die Berechnung der Mehrkilometer in Westmark und FriedensWestpreisen; weil man den Osten aber nicht unter den Tisch fallen lassen konnte, integrierte man Freundlich- und Pünktlichkeit der Reichsbahn in das nur kurze Zeit Deutsche BahnEN genannte Gesamtkonzept.

Vor einiger Zeit war es ungeheuer modern, alles, was in jahrelangen Steuergelderinvestitionen vom Staat aufgebaut wurde, in handstreichartigen Privatisierungsorgien den internationalen Finanzmiezekatzen zum Fraß vorzuwerfen. (Post und Telekommunikation können hier nicht erschöpfend behandelt werden, aber Ähnlichkeiten sind nicht nur zufällig.) Das Schienennetz, die Züge, die beliebten Mitarbeiter - all das war Bestandteil eines öffentlichen Unternehmens, das öffentlich agierte und öffentlich finanziert wurde. Es hatte vor allem einen öffentlichen Auftrag, der zu erbringen war, ganz ohne neumodischen Kram wie Ausschreibung und Beförderungsvertrag. Es mußte nicht mal Geld verdienen. Es mußte einfach nur dasein und einigermaßen funktionieren.

Sicherlich, auch früher gab es Witze über die Bahn. Was sind die 4 Feinde der deutschen Reichsbahn? Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Mit Recht. Ich verweise auf die Kurzgeschichte Wintergeschichte 2 von Lothar Kusche (vielleicht ist es auch Wintergeschichte 1, aber die andere ist auch lustig, nur mehr nahverkehrsbezogen). Insbesondere die Floskel Wegen des im Winter völlig unerwarteten Schneefalls ist mir bis heute ein beliebter Kalauer geblieben, und zwar mit Recht.

Und damit sind wir beim Heute.

Etwas witterungsbedingte Störungen zu nennen, das mit Schneefall und Temperaturen bis -10° einhergeht, zeigt ganz deutlich, was da für Jungspunde in den Kommunikationszentralen sitzen. Ich bin wirklich nicht sehr alt und kann mich sehr deutlich an mehrere aufeinanderfolgende Winter erinnern, in welchen es wochenlange Perioden mit nächtlichen Temperaturen um -25° gegeben hat, vom Schneefall wollen wir gar nicht erst anfangen. Ich bin in Polen mit einer Eisenbahn von Kraków nach Zakopane gefahren, die man vor lauter Eis- und Schneezapfen quasi nicht mehr erkennen konnte und an der auch an jeder Station Männer mit Äxten die gröbsten Klumpen entfernten, und trotzdem trafen wir einigermaßen pünktlich am Zielort ein, womit wir überhaupt nicht gerechnet hatten (ein Zug der deutschen Bahn hätte für die gleiche Strecke sicherlich das Doppelte gebraucht, bloß da die Reise ins Gebirge ging, wäre er vermutlich gleich ganz ausgefallen). Das aber nur als Einschub.

Kurz vor Weihnachten strich die Bahn JEDEN ZWEITEN ICE zwischen München und Hamburg (Berliner Strecke). Begründung waren das Wetter sowie die uneinhaltbaren, vom innovationsfeindlichen Bundeseisenbahnamt auferlegten Wartungsintervalle für die neigetechnikgestraften ICE-T. Inzwischen fährt seit ungefähr einem Monat jeder ICE zwischen Berlin und Köln nur einteilig, d.h. es gibt keine aneinandergekoppelten Halbzüge mehr, sondern nur einen. Begründung sind das Wetter sowie die verlängerten Aufenthaltszeiten während der innovationsfeindlich angeordneten zusätzlichen Wartungen, weil es zu lange dauere, die Züge zu enteisen. Häufig kommt es zu Verspätungen bereits an Abfahrtsbahnhöfen, weil Züge nicht rechtzeitig bereitgestellt werden, d.h. es gibt keinen Ersatzzug mehr, der vom Betriebsbahnhof losfahren könnte, wenn der eigentliche Zug warum-auch-immer erheblich zu spät kommt, und selbst wenn es ihn gäbe, fehlte es am entsprechenden Ersatzpersonal. Eine momentan beliebte Begründung für Zugverspätungen ist die dichte Zugfolge und die hohe Fahrgastdichte, wobei letztere teilweise damit gut zu erklären ist, daß es viermal solange dauert, bis alle Fahrgäste eingestiegen sind, wenn der Zug, der schon im Normalzustand sehr voll ist, nur aus der Hälfte der Waggons besteht. So wird der Schwarze Peter einmal mehr den Fahrgästen selber zurückgespielt, so wie bei der Einführung des neuen Preissystems schon einmal. Bereits damals wurden die Fahrgäste dafür bestraft, daß sie die Bahn dann nutzen, wenn sie sie brauchen, und nicht dann, wenn die Züge leer sind. Heute bekommt man per Durchsage mitgeteilt, daß der Zug bereits in Spandau zehn Minuten Verspätung hat, weil es in Hauptbahnhof so lange gedauert hat, bis sich die Fahrgäste von quasi zwei Zügen in einen gequetscht haben. Selber schuld!

Wenn das Wetter wirklich schlecht ist, und ehe Züge fahren, die von Rechts wegen in die Werkstatt gehören, hat wahrscheinlich jeder Fahrgast Verständnis für Einschränkungen, wenn er wenigstens trotzdem eine Chance bekommt, quer durch die Republik zu kommen. Aber derzeit findet etwas ganz anderes statt. Neuerdings zahlt der Fahrgast ICE-Tarif und hat nicht nur keine Chance auf einen Sitzplatz, sondern hört plötzlich Durchsagen, in denen er aufgefordert wird, den Zug zu verlassen, insofern er keine Platzkarte besitze - in Zeiten, in welchen die Bahn 4,50 für eine Reservierung kassiert. Glücklicherweise sind diese Aussagen auch mehr Ausdruck der Hilflosigkeit der Zugbegleiter angesichts der Massen in den verkürzten Zügen, als daß ein Rechtsanspruch der Bahn dahinterstünde, nur Personen mit Platzkarten befördern zu müssen - dann würde sie mit einer generellen Reservierungspflicht, wie sie in vielen Schnellzügen Europas gängig ist, besser fahren.

Was bleibt eigentlich an Gefühl nach all den Jahren Privatisierung nach dem Motto Gut gemeint ist nicht immer gut genug? Ich möchte mit der Bahn ein deutschlandweites Verkehrsmittel haben, das jeweils an definierten Punkten zugänglich ist (= Bahnhof) und in fest definierten Zeitfenstern die Republik durchschreitet (= Fahrplan). Die Fahrpreise sollen so gestaffelt sein, daß es auch bei der längsten anzunehmenden Strecke durch die Republik (= Flensburg-Regensburg) kein Monatsgehalt kostet, mit der Bahn zu fahren. Eine preiswerte Bahncard (schweizerisch: Halbtax) würde der Bahn kalkulierbare Aboeinnahmen einbringen. Eine am Bedarf orientierte Fahrplan- und Zugpolitik würde das Interesse an der Bahn erhöhen und mehr Zufriedenheit garantieren. Ein ICE sollte nur dann ICE-Preise kosten, wenn er ICE-Leistung erbringt, nämlich Sitzplatz plus Schnelligkeit plus Pünktlichkeit plus Freiheit vor Unruhebolden, die sich in einem öffentlich Fernverkehrsmittel nicht adäquat benehmen können. Wenn ich im Gang sitze und meine Arbeit nicht erledigen kann, die in den zwei Stunden Fahrt eingeplant war, dann soll ich auch bloß Regionalexpreß bezahlen müssen, im Ernst.

Im Moment erscheint mir die Bahn als immer-noch-Monopolist, der nicht mehr den Katzbuckel vor dem Steuerzahler machen muß, weil ja alles privatisiert ist. Also auch sehr arrogant, und eigentlich, seit sie ihre Fahrpreiserhöhungen nicht mehr mit dem zuständigen Minister diskutieren müssen, schlimmer als je zuvor.

Liebe Bahn! Bitte werde wieder cool. Ich will mit dir überallhin fahren. Aber es geht einfach nicht, daß es schon nach Kopenhagen 500 Öre zu zweit kostet, und dann will man ja noch weiter nach Stockholm. Für das gleiche Geld kann man wochenlang sonstwohin fliegen, oder man läßt es ganz bleiben und macht sich einen netten Sommer in Bielefeld. Es kann nicht sein, daß Temperaturen mit nächtlichen -10° als sibirisch eingestuft werden und Züge systematisch ausfallen, während der Rest auch viel zu viel verspätet ist. Es geht nicht, daß lange Enteisungszeiten als Begründung für dann fahren wir gar nicht erst herhalten müssen. Und wie kann ein Zug wegen dichter Zugfolge eine halbe Stunde verspätet sein, wenn die Hälfte der Züge auf der Strecke gar nicht fährt? Das kommt mir ein bißchen vor, als möchtest du mich für dumm verkaufen!

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