Das betrifft uns als Psychologen ja auch: was mache ich eigentlich, wenn ich jemanden sehe, den ich einer DSM-VI-festen Diagnose zumindest verdächtige? Lernen wir im Studium genausowenig, wie wir wissen, daß wir im Umfang unseres Studiums der Schweigepflicht unterliegen, wenn uns jemand als "angehenden Psychologen" in einer kniffligen Sache um Rat fragt. Dabei gibt es während des Studiums (außerhalb von Fallseminaren und Praktika) kaum mehr Situationen, in denen man mit seinem künftigen Stand konfrontiert ist.
(Stand meint: wenn im Fernsehen ein Autounfall oder ein Flugzeugabsturz gezeigt wird und sich jemand dazu äußern soll, wie es den Betroffenen jetzt wohl gehen mag, dann steht immer Diplom-Psychologe unten am Rand, und der Diplom-Psychologe äußert dann immer erstaunliches wie die Hinterbliebenen stehen unter Schock und die Hinterbliebenen sollte man jetzt besser in Ruhe lassen, und das verführt eine Fernsehstation niemals dazu, die Hinterbliebenen in Ruhe zu lassen, aber der Diplom-Psychologe hat gesprochen. Stand heißt, wenn der Diplom-Psychologe spricht, sagt er das, was eigentlich alle denken, aber mit gefühltem professionellen Hintergrund.)
Was mache ich also, wenn ein guter Freund sich offensichtlich in einer Major Depression befindet? Wenn jemand so viel grübelt, daß man über eine generalisierte Angststörung nachdenken sollte? Wenn sich jemand in der U-Bahn mit seinen Stimmen unterhält? Wenn ich dieselbe Person schon wiederholt im Klo in der Uni dabei getroffen habe, wie sie sich übertreiben und aufwendig die Hände wäscht? Wenn eine Kommilitonin alle Anzeichen einer Eßstörung aufweist? Wenn man also, aufgrund des erworbenen Fachwissens, eine Macke, einen Spleen, viel besser von einem klinisch auffälligen Verhalten differenzieren kann als der sterbliche, nicht mit einem Psychologiestudium gesegnete Normalbürger?
Ehemalige Kommilitonen beiderlei Geschlechts, die inzwischen - wo und wie auch immer - ihrem professionellen Tagwerk nachgehen, würden wahrscheinlich anmerken: es ist nicht so schlimm wie bei Medizinern, aber trotzdem hat man einen furchtbar professionellen Blick, den man, je nach zugrundeliegender Interessenausrichtung, nicht so schnell loswird - daher werden einem öfters Menschen auffallen, die vermutlich mit einer potentiellen Diagnose herumlaufen. Andererseits lernt man im Studium, daß eine Diagnose sorgfältig und aufwendig gestellt sein will - auch wenn das im Klinikalltag sicher auch nicht immer gemacht wird und Anfänger auch noch die entsprechende Erfahrung missen lassen - daß es also mit U-Bahn-Diagnosen schlecht aussieht. Aber trotzdem - hat man Verantwortung? Oder im Gegenteil - geht man ein großes Risiko ein, entsprechende Hinweise zu geben? Im privaten Bereich wird das eher ja noch problematischer. Schnell wird einem nachgesagt, die studiert Psychologie, und schon werden einem irgendwelche Auffälligkeiten angehängt.
Der klinische Professor hat in der Vorlesung gesagt, was er mit den Händewaschleuten macht: er fragt die, Sie wissen aber, daß man das behandeln lassen kann?
Aber an sich muß man da wohl selber drüber nachdenken. Gut, in den allermeisten Fällen wird man keine Angst vor einer Schadensersatzklage haben müssen - schließlich wird mich weder ein völlig Fremder noch ein guter Freund nach erfolgter doch-noch-Diagnose verklagen, daß ich als Psychologiestudierende oder später Psychologin ja schließlich hätte wissen müssen. Neben all den anderen, vornehmlich steuerlichen, unterhaltlichen oder schweigenden Pflichten existiert mitnichten eine diagnostische Pflicht. Über den ethischen Gehalt oder die moralische Pflicht von Diagnosen sollten zukünftige Fachleute im Studium aber eventuell nachzudenken lernen.
1 Kommentar:
Meine Chefin (Amtsärztin und langjährige Leiterin des SpDi) zum Thema: In der DDR lebten unsere Klienten in Ruhe mit sich selbst, dann kam die Wende und der SPDi.
Gruß papa
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