Montag, 28. April 2008

Gestern über den Dächern, heute unterm Schirm

Gestern war hier Hermannslauf. Das verleidete mir etwas den Spaziergang zur Sparrenburg, denn überall waren Personen in diesen meist unattraktive Figuren betonende Laufklamotten nebst von der Sparkasse gesponserten Utensilienbeutelchen unterwegs. Imposant erschien mir dabei, daß eine nicht unerhebliche Anzahl von Hermannslaufabsolventen eine Bierflasche und/oder eine Zigarette zwischen den Zähnen hatten. Viele männliche Apologeten waren in Begleitung ihrer schick (gestern: weiße Hose, über die Schultern geworfener Pullover) gekleideten Gattinnen unterwegs (falls jemand einen besseren Plural für Gattin weiß, koche er/sie sich/ihm/ihr einen Schokopudding). Jedenfalls gibt es hier ein Haus, an dem nichts dran (und offenbar auch drin) ist außer der an/eingemeißelte Name des wahrscheinlich hausgründenden Geschlechts.

Aber zurück zum Titel. Vorgestern abend gab es schon ausführliches Balkonbier mit einem Haufen Klinischer Linguisten. Das mit dem Tyskie war übrigens keine Latrinenparole: Einsam steht ein nurmehr halb (Schwester war schon dagewesen) gefüllter Kasten Tyskie inmitten all dem Schund, den der hiesige Edeka so als Bier feilbietet. Es macht ein wenig den Eindruck, als hätte sich der Filialleiter kürzlich in Berlin-Friedrichshain aufgehalten und derweil festgestellt, daß es in praktisch jedem Spätverkauf, der was auf sich hält (also ca. 0,2/m²) an die zehn verschiedenen polnischen Biere zu kaufen gibt. Daraufhin stellt der Filialleiter eine logische Verbindung nach Bielefeld her - was in der Hauptstadt geht, wird in der quirligen Metropole Ostwestfalens doch auch funktionieren - und nimmt spaßenshalber einen Kasten Tyskie mit. Eingescannt werden die hier nämlich nicht. Im Gegenteil muß langwierig der Quasi-Import über diverse Codes, infolgedessen er als "andere alkoholfreie Getränke" verbont wird, eingegeben werden. Der Witz an der Sache erscheint mir ja der zu sein, daß ohne den großen Zufall des Vorhandenseins gleich zweier, miteinander lose verwandten, Piwo-affinen Mädels der Kasten vielleicht immer noch still und nahezu voll zwischen Herforder und Paderborner sein Dasein fristete...
Aber nun endlich zum Dach. Einer der aktuellen Empiriepraktikumsritter bewohnt, von hier aus gesehen, auf der anderen Seite des Ostwestfalendamms eine kuriose Psychologen-WG direkt unterm Dach, welchselbiges man über eine Art Leiter erklimmen kann. Oben ist schön über Bielefelds Dächer und auf den Teutoburger Wald sowie diverse Kirchen gucken. Ein bißchen wie früher der Blick von der Auferstehungskirche und fast genauso gefährlich. Das allgegenwärtige Telekomhochhaus, die Kirchen, der ungenutzte Wintergarten gegenüber - die ICEs nach und von Berlin, die rumpelnden Intercitys und die scheppernden, Gespräche erstickenden Güterzüge, dazu die enervierenden Idioten mit ihren namenlosen Spaßmobilen, die durch die engen Nebenstraßen knattern. Einfach schön. Sterne oben, Manu Chao auf gleicher Höhe, ja.

Hier darf auch noch geraucht werden.

Den Rest der Zeit verbringt man so lalá. Korrekturfahnen ohne Ende; Arbeitspsychologie mit der Hauptstudiums-Fortsetzung des Taxifahrer-Wissens aus der Sozialpsychologie; eine zweckentfremdete Sprechstunde; ein unnötig entschuldigendes Telephongespräch; zwei promovierte junge Damen im Büro, die sich gegenseitig ihr Herz ob des Kummers doppelt vorhandener Panini-Sammelbildchen ausschütten und anschließend mit dem Tauschen beginnen; die offenkundige Dyskalkulie der Sekretärin; wie zumutbar sollte sich ein Suizid für die Nachwelt, insbesondere den bedauernswerten Finder gestalten? und ist durch bloßes vor-die-Straßenbahn-werfen in Bielefeld überhaupt Suizid möglich?; warum firmen die Katholiken mit neun, wo man doch erst mit zwölf, oder war es gar vierzehn, religionsmündig ist? Also, man sieht, Psychologie-Studium mang lauter Psychologen bedeutet nicht immer abgefahrene Fachdebatten, sondern auch boden- und erdnahe Diskussionen im Alltagsbereich.

Zum ICE-Unglück: Durch den betreffenden Tunnel bin ich auch schon oft durchgefahren. Obwohl im Zug selten zu Flugangst neigend, war mir auf den langen Tunnelstrecken auf der Fulde-Hildesheim-Strecke stets mulmig zumute - 250 Stundenkilometer im schwarzen Nichts (und, wenn man will, immer die sattsam bekannten Bilder des zertrümmerten Eschede-ICE vor Augen) sind nicht ohne. (Zumal man auf der Strecke, wenn man nicht im Tunnel ist, über hohe Talbrücken fährt - da möchte man auch nicht runterfallen.) Damals habe ich stets imaginär und ungläubig drei Kreuze gemacht, wenn die Hochgeschwindigkeitstrasse durch die deutschen Mittelgebirge vorüber war - im vollen Bewußtsein, daß ich ohne dieselbe von Stuttgart nach Berlin bestimmt drei Stunden länger unterwegs wär. Und jetzt stehen da Schafe vor dem Tunnel - wie oft stand ich eigentlich, ohne es wirklich zu wissen, am Abgrund? Als der Flieger in Kraków bei minus zwanzig Grad kurz vor dem Aufsetzen durchstartete? Als die DBA-Maschine in Stuttgart dermaßen spät aufsetzte, daß nur eine Art Notbremsung (sie bremsen, glaube ich, nach dem Aufsetzen ohnehin) uns noch rechtzeitig vor Landebahnende zum Stehen brachte? Als der Intercity auf freier Strecke inmitten völliger Dunkelheit so scharf abbremste und irgendwann zum Stehen kam, daß man die von den Bremsen ionisierte Luft im Waggon scharf wahrnehmen konnte? Wann immer ein Trottel auf der Autobahn vor uns sich spontan zu einem Überholmanöver entschloß?

Who knows. Leben scheint Gratwanderung. Nicht immer ist man sich dessen bewußt, aber gestern habe ichs mal wieder gefühlt. Und dann rauschen unter dir im Stundentakt des Fahrplanes die ICE vorbei. Was geht im Kopf des Lokführers vor? Der Passagiere? Gottseidank, wahrscheinlich.

[Erklärung für den zweiten Teil des Titels: Heute regnete es natürlich endlich mal wieder. Nicht, daß ich Schirme benützen würde.]

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