Sonntag, 30. September 2007

Wieder sehen

In der einen Fallgeschichte las ich von einem früh erblindeten Mann, dem durch eine Operation nach vierzig Jahren das Augenlicht wiedergegeben werden konnte. Wir Sehenden denken natürlich, daß man nach einer solchen Operation die Augen aufschlägt, die geliebte Gattin vor sich sieht und auf die Knie fällt und mit Lobpreisungen beginnt. Personen, die sich gerade mit den physiologischen und neuroanatomischen Grundlagen des Sehens beschäftigen, können sich vielleicht vorstellen, in welche Schwierigkeiten solche Patienten (von denen es naturgemäß nicht besonders viele gibt) mit dem vermeintlichen Geschenk des Augenlichts geraten. Das, was wir sehen, ist ja nicht das gleiche wie das, was "da draußen" als reale Welt herumsteht bzw. -schwirrt, auch wenn uns das ganz selbstverständlich vorkommt. Verschiedene Cortexareale basteln aus den Lichtinformationen von der Retina und den Informationen der anderen Sinnesempfindungen unsere schöne, bunte, bewegliche Welt zusammen. Zur corticalen Integrationsleistung kommt noch die fein abgestimmte motorische Reaktion hinzu, der paßgenaue Augen- und Körperbewegungen zu verdanken sind. Bei dem blinden Mann passierte nun folgendes: er sah Licht und Farben, hatte aber Schwierigkeiten mit Konturen, Bewegungen und Entfernungen. Seine Wahrnehmung der äußeren Welt beruhte vor der Operation vor allem auf den auditiven und taktilen Informationen - die Verarbeitung visueller Reize hatte sein Hirn praktisch "verlernt". In der vierten Schicht des Cortex im Areal 17 treffen Signale vom Nucleus geniculatis lateralis* ein - und da ist dann niemand, der sich für die Signale interessiert.
Und unsere Annahme, daß Blinden oder Gehörlosen etwas immanentes fehle? Wo ich grad Physio lerne, sind mir ein paar Grundlagen der Wahrnehmungsmechanismen vertraut, und ich weiß, daß der Cortex sich aus den differenzierten Wahrnehmungen seine (meine) Welt zusammenbastelt. Das macht er auch, wenn ihm aus einem der Kanäle der Input fehlt, wenngleich er es nach einer Krankheit oder Läsion erst lernen muß, den Verlust zu kompensieren. Aber aus corticaler Sicht ist es daher auch wie eine Verletzung zu betrachten, wenn eine Funktion nach langer Zeit wieder hergestellt wird - die normalerweise dafür spezialisierten Areale könnten inzwischen ausgleichsweise andere Funktionen übernommen haben und entsprechend überfordert sein.
Sehr interessant.
Es ist eben nicht so, daß man eines Morgens die Augen aufschlägt und wieder sehen kann.

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