Mittwoch, 3. März 2010

Mein erster Bulle

Heute war ein Polizist da. Der war nett und klug. Eigentlich war er so, wie jeder Polizist, gemessen an den Erfordernissen polizeilicher Aufgaben, sein sollte, bloß ist der Dienst für die, die intelligent und menschenfreundlich und dann auch körperlich geschmeidig sind, eben nicht attraktiv genug. Aber das wollte ich nicht erzählen.

Der Polizist hat seit längerer Zeit Benommenheits- und Übelkeitszustände, manchmal Kopfschmerz, und eine unklare Sensibilitätsstörung am Kopf (vulgo: Taubheitsgefühle). Bis jetzt hat noch keiner rausgefunden, was es ist (und ja, Ärzte überschätzen sehr schnell ihre eigenen Kompetenz- und Zuständigkeitszugehörigkeiten, aber dazu später vielleicht mehr). Bereitwillig läßt sich der Polizist zu Psychologen und Psychiatern schicken, was ja landläufig immer als Zeichen für Einbildung und Psychosomatik gilt. Aber die finden auch nichts, keine Somatisierungsstörung, keine Depression. Was bleibt, ist die Benommenheit und die Übelkeit. Der Polizist geht weiter arbeiten. Nun wurde es innerhalb weniger Tage, er sollte ohnehin bald geplant aufgenommen werden, so schlimm, daß er die Rettungsstelle aufsucht, jetzt ist er in der Charité, und ich hoffe, daß unsere tüchtigen Neurologen endlich auch was-auch-immer-es-ist bei ihm ausmachen und behandeln.

So landläufig, so langweilig. Viele unserer Patienten haben vergleichbare Hürdenläufe hinter sich und landen in der Charité, weil endlich irgendwann einmal ein Arzt einknickt und die Kompetenz ans Uniklinikum abtritt. (Es gibt ja einen sogenannten Provinzehrgeiz: Wir schaffen das schon alleine, wir brauchen das BKA/ die Charité/ das Oberlandesgericht nicht.) Aber der Polizist beeindruckte mich mit seiner Entschlossenheit, die Wahrheit erfahren zu wollen, und seiner Bereitschaft, ihr, wenn sie denn ans Licht gezerrt ist, ins Auge zu schauen. Die mir in der Anmeldung vom Stationsarzt fast hämisch untergeschobene verdächtigte "lavierte Depression" (die es im Diagnosemanual eh nicht mehr gibt, aber da scheinen Ärzte ja öfter nicht reinzuschauen, wenn sie einem auch endogene und reaktive Depressionen und Psychosyndrome und Pseudodemenzen aufschreiben) konnte ich mithin nicht ausmachen. Der Polizist hätte sich auch mit einer Depressionsarbeitsdiagnose angefreundet, glaube ich. Aber was mein Weltbild, vielleicht nicht in Bezug auf Polizisten speziell, aber auf mittelständische Erfolgstytpen im allgemeinen etwas durcheinanderrüttelt, war die bedingungslos ehrliche Selbsteinschätzung seiner Situation vor der Erkrankung: Er habe einen Beruf, der ihm Spaß und lediglich "gesunden" Streß bereite, er habe eine Frau und zwei, wie er sich ausdrückte, wohlgeratene Kinder, mit denen er in einem schönen Haus lebe, und er malte dieses Bild nicht allzu idyllisch, nur eben so, wie es war, und er fügte hinzu: fast wie im Bilderbuch. Mit anderen Worten: Er ist glücklich. Oder gerade eben nicht? Wie oft hat er diese Gedanken, auch angestachelt von den teils bohrenden, teils heimtückisch-harmlosen Fragen der Phalanx von Psychotherapeuten, bereits gewälzt: Ist es ein goldener Käfig? Stimmt irgendwas nicht? Belüge ich mich selber, oder meine Frau, oder meine Kinder? Oder belügen die mich?

Am Ende kann er natürlich trotzdem eine Depression und sonst nix haben. Weil der Schein trügt. Weil er trotzdem unbewußt unzufrieden ist. Weil er einfach das 30prozentige Lebenszeitrisiko, eine zu entwickeln, abgegriffen hat. Gut. Aber nun stelle man sich vor, er hat eine limbische Enzephalitis. Das bekommt ein Psychiater mit seiner Somatisierungsstörung oder ein handelsüblicher Neurologe mit der lavierten Depression natürlich nicht heraus. Das würde er aber gar nicht bemerken, sondern den Patienten mit seinen unbestätigten Arbeitshypothesen quälen. Und auf Depression behandelt zu werden, wenn man keine hat, ist im besten Falle unproduktiv.

Der Polizist war ungeduldig, aber auch hartnäckig. Ich sagte das und bemerkte dazu, daß das wahrscheinlich die beiden Eigenschaften seien, die ihn zu einem vermutlich guten Polizisten machten, und da stimmte er nach kurzem Überlegen zu. Ich hoffe, daß wir viele von diesen Polizisten haben, und zwar überall - in Spezialeinheiten und im Streifendienst. Ich wünsche dem Polizisten, daß er genesen wird.

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