Sonntag, 7. Februar 2010

Was passiert

Einmal vorweg: Wir haben ja immer vor allem möglichen Angst, wenn es um unsere Gesundheit geht, meist vor Krebs, Demenz und vielleicht noch Schweinegrippe, wenn sie gerade IN ist. Aber nach einem Monat mit neurologischen Patienten habe ich vor ganz anderen Sachen Angst. Schlaganfall zum Beispiel. Oder NMDA-Rezeptor-Antikörper-Enzephalitis. Oder Leukenzephalopathie, hatte ich jetzt schon einige Patienten. Oder spinocerebelläre Ataxie, ist erblich und sowas von unheilbar, und es gibt je nach Genort ca. 17 verschiedene Sorten davon.

Was mich an der Neurologie so fasziniert, ist eben die Entdeckung des gesunden funktionierens anhand der Störungsbilder, die durch lokalisierbare Läsionen oder Entzündungen entstehen. Manchmal, bei Gesichtsfelddefekten z.B., ist das fast Eins-zu-eins ablesbar. Oder bei den verschiedenen Gedächtnisaufgaben, da sind manche mit Zahlen, manche mit Worten, und bei manchen muß man zeichnen. Da gibt es wirklich alle Kombinationsmöglichkeiten an Fähigkeiten, und hinterher sitzt man da und versucht zu begreifen, warum einer sechs Zahlen rückwärts wieder hersagen kann, aber schon beim Abzeichnen einer komplexen Figur völlig seine Grenzen austesten muß.

Ich gehe also gerne in diese Patientenkontakte. Ich habe einen weißen Kittel an und murmele meinen Namen und "Neuropsychologie", und für die nächsten neunzig Minuten bin ich Halbgöttin. Erwachsene, gestandene Männer sprechen mir Zahlenfolgen nach und hören sich fünfmal die Folge "Trommel, Vorhang, Glocke..." mit einem Ernst an, als sei ich die Hörspielprinzessin. Sie erzählen meist viel, und ich lasse sie auch meist gewähren, weil die Zeit da ist. Es ist auch - entgegen allem, was wir zu recht in Diagnostik lernen - sehr aufschlußreich, was ich mir aus diesen informellen Informationen als klinischen Eindruck zusammenstelle. Nicht aufschlußreicher als die Tests, und ich kann an den Tests immer wieder genau sehen, wo der Patient seine Stärken und Schwächen hat. Aber 80% der Diagnose kann man nach fünf Minuten Gespräch stellen, und 80% dieser Diagnosen sind richtig. Bei den 20%, die einem nach fünf Minuten nicht klar sind, weiß man es nach der Untersuchung immer noch nicht, und 20% der gefühlten, klinischen Diagnostik muß eben nach den Tests korrigiert werden.

Heutzutage gibt es ja immer viele wunderbare Tests auf alles mögliche, und darüber kann man auch jede Menge lernen. Morbus Huntington, manche erinnern sich aus dem Biologieunterricht, den anderen ist der entsprechende Wikipedia-Eintrag verlinkt, ist autosomal dominant vererbt. Somit haben es die eigenen Kinder mit jeweils 50%. Leider wußte man früher erst, wenn der eigene Elternteil betroffen war, daß mans haben könnte, und dann waren die Kinder schon da (early onset vielleicht mit 40, da hatten die eigenen Kinder schon Kinder). Heutzutage kann man eine relativ zuverlässige genetische Untersuchung machen lassen, und ich hatte jetzt schon einen selber und von zwei weiteren gehört, die ebendiese Untersuchung (bei positiver Familienanamnese!) verweigert haben. Ein schönes Beispiel dafür, daß die Verfügbarkeit von Antworten nicht immer bedeutet, daß die Menschen die Frage auch stellen wollen. Denn was würde der Patient, den ich neulich untersucht habe, mit der Antwort machen? Eigentlich auch nichts anderes, als er ohne Genetik auch tun müßte (aber nicht macht). Er müßte seine halb erwachsenen Kinder aufklären, bevor diese blauäugig wiederum Kinder bekommen. Er müßte sich selber mit der Erkrankung, die er wahrscheinlich in einer milderen und hoffnungsvollen Ausprägung hat, auseinandersetzen. Immerhin ist es in Deutschland so, daß dieser genetische Test zwingend an eine psychotherapeutische Begleitung gekoppelt ist. Denn was ist das Ergebnis weniger als ein deutliches, qualvolles Todesurteil?!

Also: entzündet euch nicht nur nicht euer Kleinhirn, sondern möglichst auch nicht eure NMDA-Rezeptoren. Schlaganfall ist ebenfalls schlecht. Und nehmt euch ernst - neulich hatte ich einen Patienten, der offenbar vor langer Zeit mal einen Schlaganfall hatte, infolgedessen er zunächst gelähmt war. Was macht er? Liegt zwei Tage im Bett, weil er gelähmt ist. Als er wieder bißchen laufen kann, geht er zum Arzt, der ihn natürlich ins Krankenhaus schickt, und zwar samt Reha für ein Vierteljahr. Das war einfach nur suboptimal, und heute weiß man nicht mehr, obs daran oder an seiner Herz-OP oder sonstwas gelegen hat, daß er sich heute keine drei Wörter mehr merken kann.

Berlin ist gerade die größe anzunehmende Herausforderung für die Körperselbstwahrnehmung, das Gleichgewichtssystem und das Kleinhirn als Instanz für Korrekturen aller Art. Es besteht der gesamt Untergrund nicht aus den gewohnten Granitsteinen, sondern nahezu ausschließlich aus mehreren Lagen Schnee, die in unterschiedlichen Stadien von auftauen und wieder frieren befindlich schlußendlich zusammengefroren sind und nun einen uneinheitlich-buckeligen, glatten und kreuzgefährlichen Überzug bilden, der einen 5-10 Zentimeter höher als gewohnt durch die Stadt trägt. Oder besser schlittert.

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