Sonntag, 21. Februar 2010

Tauwetter

Tagsüber jedenfalls. Nachts bricht man sich die Haxen, weil das Streugut unter den Sonnenstrahlen in die Schmelzlachen sinkt und dann beim Überfrieren fehlt.

Lese Maxie Wander, wieder, nach vielleicht fünfzehn Jahren. Oder zehn - und staune! Das Frauenbuch hab ich immer wieder verschlungen, und immer wieder neu. Aber die Tagebücher und Briefe? Das hat nicht mehr gelockt. Und nun doch, weil neulich auf dem Flohmarkt für einen Öre erstanden (und der "Briefroman" von Yalom/Elkin so psychoanalytisch-öd ist, immer nur Masturbation und sexuelle Übertragung, bäh!), und gleich schreibe ich wie sie, zerhackt und doch einer Linie folgend. Wienerisch singt es mir im Ohr, und ich glaube, ich möchte einmal nach Kleinmachnow fahren und ihr Grab besuchen (wie rührend, daß Fred Wander, der Jahre nach ihrem Tod mit einer neuen Frau die DDR wieder verließ und vor vier Jahren in Wien gestorben ist, in Kleinmachnow begraben ist!), und das Haus würde ich gerne sehen! Wo die 95 Menschen (sie hat sie nachgezählt!) ein und aus gingen, und dann hatte sie den Haushalt am Hacken und wollte doch lieber schreiben oder Platten hören. Ein unbeugsames linkes Herz, das mit der DDR so viel aushalten mußte, was nicht paßte zu dem Anspruch, ein Arbeiterparadies zu sein. Und sich mit ehrgeizigen Lehrerinnen und müden, resignierten Bürgern stritt. Und an die institutionalisierte Schlamperei ihr Kind verlor und schließlich selbst starb, vielleicht, weil das Land lange sehr menschenfeindlich mit seinen Bürgern umging.

Ich genieße Berlin und die Arbeit, ich kann es nicht anders sagen. Und dann, wenn der Frühling kommt, geht es in den Teutoburger Wald zurück? In die Bibliothek? Das ist unvermeidlich, wenn ich wiederkommen will - als Psychologin mit Abschluß und dem festen Willen, etwas anständiges zu beginnen. Neuropsychologie zum Beispiel.

Ich muß hochanonymisiert Patienten beschreiben, sonst entgleiten sie mir. Manche sind sehr alt und sehr fit, manche sind mittelalt und habens schwer. Fast alle sind sehr nett; der Kittel tut ein übriges. Nach fünf Minuten ahnt man, was der Patient kann und was nicht. Zu einer sehr alten Dame sagte ich nach zwei Minuten, daß wir die Untersuchung sehr gerne durchführen, aber ich könne ihr bereits jetzt sagen, daß sie nicht dement sei. Was stimmte. Sie war nach der Rente vom Land nach Hannover gezogen, um Philosophie zu studieren. Seit drei Jahren lebt sie in Berlin. Wenn sie einen Tag nicht rauskann, gehts ihr schlecht. Sie geht in die Philharmonie zu Konzerten. Manche schickt das Bundeswehrkrankenhaus, und wir können deren Überweisungsdiagnose "dementielles Syndrom" auch nur bestätigen - für 400 Öre, so erklärt sich der Verteidigungsetat. Neulich hatte ich einen, der war Facharbeiter für Filmvorführtechnik, und ich frage ihn, in welchem Kino er dann gearbeitet hätte, da war er im Ministerium des Inneren gewesen, "oder schreiben Sie gleich MfS, das macht auch keinen Unterschied". Nach der Wende hat er 17 Jahre Nachtschicht im Photogroßlabor malocht, froh über jede Arbeit. Jetzt kriegt er nicht mal mehr Hartz IV, weil die Frau verdient. Ein anderer war da, der hat Staat und Recht studiert gehabt, ein Fernstudium bei der NVA. Nach der Wende konnte er sich mit dem Diplom den Hintern abwischen. Jetzt ist er in der Behindertenbetreuung, mit seit Jahren befristeten und verlängerten Verträgen. Kriecht einem kalt den Rücken hoch, wenn man sieht, wie dieses Land mit seinen Bürgern umgeht, und das sage ich nicht, weil ich das zufällig bei den beiden Menschen mit Stasihintergund gedacht hätte. Die Patienten aus dem Osten sind alle, aus dem Westen sogar auch einige gebeutelt worden, und nur eigene Tatkraft und Anpackerei bewahrte die meisten vor der Resignation. Sich regen bringt Segen, heißt es, und ergänzend würde ich sagen, und schützt vielleicht ein bißchen vor den Wirren des Alters. Nicht die Feuerwehr anzurufen, wenn man aufwacht und infolge Beinlähmung nicht aufstehen kann, ist dagegen dämlich. Ein unbehandelter Schlaganfall hat Folgen.

Maxie Wander zitiert ihren Mann Fred:

Laßt uns arbeiten, aber auch faul sein. Laßt uns Kraftwerke bauen, aber auch Luftschlösser. Ohne Luftschlösser keine Kraftwerke!

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