Montag, 22. Februar 2010

Es ist Zufall, aber

nachdem ich gestern abend/nacht noch die Maxie Wander auslesen mußte (ich wußte ja, wies ausgeht, aber trotzdem!), habe ich heute Verzichten auf von Matthias Kalle angefangen, ein Mann, der mir aus unerfindlichen Gründen schon seit längerem sympathisch ist (sonst hätte ich das Buch ja nicht gekauft!). Und finde aus westdeutscher Sicht aufgeschrieben, was ich beim Lesen der österreichisch-ostdeutschen Epitheta dachte. Daß man zum Beispiel nicht mehr miteinander spricht, bloß redet. In dem Tagebuchband finden sich mehr kluge und tiefe Gedanken als in allen Ergüssen der Fräuleinwunder und Generationenausrufer zusammen (und sie sind locker 30 Jahre älter), und ich frage mich dann: Wo ist der Unterschied? Bin ich diejenige, die sprachlos ist? Sind es die anderen? Wir alle? Kenne ich einfach die falschen Leute, und zwar ganz banal deshalb, weil ich selber nicht besser bin? Maxie Wander schrieb Brief um Brief; manchmal an Freunde, die gerade eben fortgegangen waren, manchmal an Freunde, die sie nur sehr selten sah. Telephon war rar und teuer; wenn man sich spüren wollte, mußte man schreiben. Aber es gab ja andererseits Ramba-Zamba im Hause Wander in Kleinmachnow; ein Kommen und Gehen von nahen und fernen Freunden, der erwachsenen Kinder, die ihrerseits ihre Freunde mitbrachten und blieben. Und trommelten. Kein Tag (glaubt man den Aufzeichnungen), an dem nicht jemand klopfte, und alle waren immer willkommen. Da heißt es schon was, täglich das Papier vollzuschreiben! Und Maxie Wander berichtet nicht vom Kartoffelschälen. Sie hört Schallplatten und macht sich Gedanken. Ernsthafte Gedanken. An nicht einer einzigen Stelle findet sich ein Hinweis auf begehrenswerte Schuhe (gut, das Tagebuch ist von ihrem Mann herausgegeben.) oder prestigeträchtige Reiseziele oder exquisites Essen. [Konfident, ich glaube, du mußt dieses Buch mal lesen!] Die zentrale Fragen Maxie Wanders lauten: Wie soll man leben? Wo ist Heimat? Wo gehöre ich hin, und wenn ja, warum? Eine ihrer Antworten, sehr explizit: Schreiben. Eine andere: Eine gute Mutter sein - was auch immer das bedeuten mag (und spätestens nach dem Tod ihrer Tochter ist sie sicher, daß sie's nicht ist). Auch: Das Leben als Geschenk sehen und als Aufgabe. Niemals einfach dahindämmern und vor sich hin leben, nicht den Quatsch im Fernsehen für bare Münze nehmen, das Zusammensein mit Freunden genießen, so es genießenswert ist, und ansonsten meiden. Und Rücksicht nehmen, ohne sich selbst zu sehr zurückzunehmen.

Was Matthias Kalle schafft: er kommt von ganz woanders (Ostwestfalen, haha), und er meint etwas anderes. Die ganz zentralen Fragen stellt er auch nicht mehr, aber immerhin stellt er in einem noch zarten Alter (das Buch ist ca. 8 Jahre alt, und Kalle ist ca. 3 Jahre älter als ich) fest, daß Angehörige unserer Generation völlig sinnentleerte Gespräche führen. Welche Attribute für aktuelles Coolsein notwendig seien (heute fällt einem als erstes das umfangreiche Angebot eines Apple-Ladens ein, damals waren es die richtigen Turnschuhe), was man am vergangenen Wochenende wieder brav im Feuilleton auswendiggelernt habe (Fräuleinwunder, Popliteratur) oder welche aufregenden Clubtüren man nach stundenlangem Outfit-Feilsching und banalem Anstehen (was der brave DDR-Bürger tat, wenn er mal Obst essen wollte) habe bezwingen können. Das ist natürlich keine Substanz, nichts, was einen trägt, in guten wie in schlechten Zeiten. Es ist eher der berliner Schneemann am Dom, dessen massive Eiskugeln unter den Sonnenstrahlen zerbrechen, weil der Wind plötzlich warm und nicht kalt weht. (Das hat natürlich nicht Matthias Kalle geschrieben; der Schmonz ist von mir selber.)

Und dann, unabhängig von Absatz 1 (Maxie Wander) und Absatz 2 (Matthias Kalle), stehe ich heute, wie fast jeden Tag, im Kaisers und denke, mann, Sophia, du warst aber auch schon mal konsequenter! Bei Lidl geh ich nicht einkaufen, weil die schlimme Sachen mit den Mitarbeitern machen (und die etwas überraschende Mindestlohnforderung sollte wohl auch nur verdecken, daß kürzlich eine nicht unerhebliche Anzahl von Menschen am Harzer Käse starb), und wenn ich Kaffee kaufe, achte ich auf die Trias Bio, fair, Geschmack. Ich kaufe viele Bioprodukte, auch wenn es Massenprodukte von Handelsmarken sind, weil ich glaube, daß allein schon das geringere Ausbringen von Düngung und die Gentechnikfreiheit für nachhaltiges Bodenbewirtschaften vonnöten sind. Zumindest theoretisch weiß ich ganz gut bescheid. Aber ach, die Praxis! Ich fliege zwar nicht gerne, aber ich kenne eine ganze Reihe von Menschen, die es fertiggebracht hat, noch nicht so häufig geflogen zu sein wie ich (die Umstände!). Ich mag keine Autos (sehr ernsthaft!), aber wenn partnerschaftlich ein Auto nebst Herumfahrer vorhanden ist, lasse ich mich gerne herumkutschieren, und das nennt man dann Synergieeffekt, weil immerhin zwei Leute und nicht bloß einer im Auto sitzen. Ich kaufe meine Möbel bei Ikea, und meine Anziehsachen kommen nicht nur von *Pieps*, sondern ich arbeite da sogar und stütze das Schweinesystem auf diese Weise doppelt! Kaisers, welcher eine ganz infame, rechtliche Kampagne gegen eine gewerkschaftlich organisierte Mitarbeiterin führt, welche auf dermaßen wackeligen Füßen steht (rein argumentativ), daß es schon Wunder nimmt, daß die Gerichte dem bislang nicht Einhalt geboten haben, aber Kaisers ist hier der einzige Supermarkt (ja, Edeka, EINE Straßenbahnhaltestelle weiter, und ist der wirklich besser?), und ich bin einfach zu faul, anderen Einkauf zu organisieren! Zu faul, und eingefallen ist es mir auch nicht, obwohl mich die Pfandbonmisere doch sehr aufgeregt hat. Aber da wohnte ich ja noch nicht im Einzugsgebiet eines Kaisers.

Und genau das meinen Maxie Wander und Matthias Kalle. Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Das ist leicht dahingesagt, aber schwer gelebt. Früher, Maxie Wander, wenn den ganzen Tag die Haustür nicht stillsteht und alle naselang auf dem heimischen Chaiselonge diskutiert wird, woraus dieses richtige Leben eigentlich besteht und ob es ein gleichzeitiges Recht auf Glück überhaupt beinhaltet, da mußte man ja ständig darüber nachdenken! Heute, Matthias Kalle, wird das nicht mehr diskutiert, es ist in einflußreichen Magazinen abgedruckt und mithin nicht mehr Bestandteil einer Debatte, die aber eh keiner führt.

Ich kenne das selber von Reaktionen auf einige meiner Verhaltensweisen. Ob ich mit Mitfahrzentrale von Berlin nach Bielefeld fahren würde, wo die Bahn doch so teuer wäre. Nö, sage ich da, ich fahre nicht so gerne Auto, und es sei nicht viel teurer und normalerweise (Winter und andere unvorhersehbare Katastrophen ausgenommen) wesentlich schneller als mit dem Auto. Nö, sage ich, Kartoffelchips und anderes Krams wie Nüsse schmecken mir nicht; nö, fernsehen finde ich im besten Falle einfach langweilig. Gefühlte 85% des Angebots eines Supermarkts sind nicht für mich gemacht, und je unkaufhallenartiger ein Supermarkt daherkommt, desto mehr. Leider bin ich dabei kein wirklich guter Mensch geworden. Ich spende fast nie was, weil man dafür das Onlinebanking bewegen müßte (und dran denken auch noch!), aber ich nerve auch den (neuerdings) verhaßten Kaisers-Supermarkt nicht, daß die an ihrem Pfandautomaten die geniale Erfindung anbringen, daß man den Bonwert spenden könne (bin ja eh bald weg; vielleicht ist die vielgelobte und -geforderte Mobilität, daß man quasi immer auf gepackten Koffern sitzt, nicht nur Ursache für ausbleibende Familienplanung, sondern auch dafür, daß sich kein Mensch mehr lokal in irgendwelchen Geschichten engangiert - das ist ja auch nur in Strukturen sinnvoll, die man selbst als stabil begreift. Umgekehrt sind Engagierer, die auf Teufel-komm-raus stadtteilmäßig engagieren und nächste Woche nach Bochum oder Regensburg "machen", in entsprechenden Stadtteilinitiativen auch nur so semi-gern gesehen). Ich habe schon Getränke aus Dosen zu mir genommen (wenn auch in den letzten zehn Jahren noch seltener als davor), ich aß Cheeseburger bei McDonalds, ich flog nicht nur nach Kreta, sondern, viel schlimmer, von Berlin nach Kraków und zurück. Ich kaufe Kaffee in Pappbechern mit Plastedeckeln.

Schlimm, schlimm, schlimm! Ich frage mich nicht ernsthaft, wie ich leben soll, mit Ausnahme meines zukünftigen Berufes. (Ich schreibe leider keine langen und schönen Briefe an meine Freunde.) Und dabei halte ich mich schon für eine von diesen, die nachdenken und die bessere Welt wollen und wissen, daß es dafür nicht immer nur um die eigene Bequemlichkeit und Befindlichkeit gehen kann. Aber ich habe es auch nicht geschafft, den sektiererischen Zirkeln von Vegetariern, Autonomen oder Feministen zu folgen, vielleicht, weil ich auch dafür zu faul bin, oder weil mir die Antworten zu leicht vorkommen.

Die Frage ist doch: warum sucht man nicht nach den Fragen mit den schweren Antworten?

[Und ja, Konfident, es wird Zeit für mich, Frau B. ernsthaft zu lesen!]

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