Sonntag, 4. Oktober 2009

Liebes Vaterland!

Als ich noch klein war, gab es dich noch. In der Schule sagten wir am 7. Oktober ein Gedicht von Heinz Kahlau auf, das hieß "Geburtstag hat die Republik", und anschließend besangen wir in dem Lied "Unsere Heimat" den Umstand, daß nicht nur Bäume und Flüsse, sondern auch die Tiere im Wald und die Vögel der Luft unsere Heimat seien, und daß wir sie schützen würden, unsere Heimat, weil sie dem Volke, weil sie unserem Volke gehört. Soweit warst du also immer präsent, in Form von Hammer, Sichel, Ährenkranz oder auch als das gewohnte Tryptochon aus Willi Stoph, Erich Honecker und Horst Sindermann, das sich in jedem Direktorenzimmer, in jedem Konferenzraum fand. Früh umgarntest du uns schon mit gesellschaftskritischen Geschichten in Bummi und Frösi, wobei sich die Gesellschaftskritik vor allem auf das westliche und insbesondere transatlantische Gesellschaftsfeld bezog. Aber das wurde mir erst später klar; im übrigen waren die Geschichten des Westens über die "Zone" auch nicht besser und vor allem nicht edler motiviert. In der Schule wurde viel Wert auf rasches Erlernen von Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen, wie es heute so schön heißt, gelegt, aber es blieb Zeit für die Geschichten von Timur und sein Trupp, die in schwerer Bürgerkriegszeit die Frauen der kämpfenden Revolutionäre mit Lebensmitteln versorgten, oder über die krebskranken Kinder von Hiroshima und Nagasaki, die tagein, tagaus Kraniche in Origamitechnik falteten, um damit auf ihr atombombenverursachtes Leid hinzuweisen und für den atomwaffenfreien Frieden auf der ganzen Erde aufzurufen. Zwischendrin sammelten wir Schulhefte und Bleistifte für die Kinder in Nicaragua, die gerne lernen wollten, aber aufgrund der revolutionären/konterrevolutionären Schwulitäten keine Schulen, keine Lehrer und keine Schulhefte hatten. Für pfandfreies Altglas gab es beim sogenannten Lumpenhändler (Sekundärrohstoffverwertung; ich mußte ca. 24 Jahre alt werden, um die Abkürzung SERO 1. zu verstehen und 2. mit Sinn und Inhalt zu füllen - da gab es SERO bereits 10 Jahre oder wieviel nicht mehr) Geld; wohl dem, dessen Eltern Schnaps tranken, denn für Schnapsflaschen gab es 20, für Weinflaschen bloß 5 Pfennig. Blöd, wenn in der Klasse ein Sammelwettbewerb ausgerufen war: dann mußte man das Zeug, um einigermaßen soziabel zu sein, gegen nix in der Schule abliefern - um einigermaßen soziabel zu sein, erschiene man also mit möglichst vielen leeren Schnapsflaschen in der Schule, naja.

Als Kind wundert man sich über sowas natürlich nicht, denn man hat ja keine Referenz- oder Vergleichsgruppe, die in der Schule drei Jahre Zeit hat, um Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen, die nach der Schule daheim die Mami nebst selbstgekochtem Mittagessen vorfindet, und die keine Lieder lernt, die mit Wenn Mutti früh zur Arbeit geht anfangen.

Bloß an den rätselhaften Gesprächen, die Erwachsene bisweilen in Hörweite miteinander führen, und an den Divergenzen zwischen der Aktuellen Kamera und der Tagesschau erkennt man auch als Zehnjährige, daß nicht alles im Land und um das Land herum so ist, wie die Lehrer einem versuchen plausibel zu machen. In Polen herrscht der Kriegszustand, obwohl das doch ein sogenanntes Bruderland war, und aus der Sowjetunion drangen die seltsamen, auch mit den ersten Russischkenntnisssen nicht erklärbaren Wörter Glasnost und Perestroika herüber, das konnte niemand verhindern. Staunend verfolgte ich die Abrüstungsverhandlungen zwischen Reagan und später dem alten Bush und Gorbatschow, die sich auf verschiedenen Gipfelkonferenzen in meist abgelegenen Erdgegenden wie Island in die protokollarische Länge zogen, und interessiert erlernte ich die Unterschiede zwischen Staats- und Arbeitsbesuch, zwischen Präsident und Parlament, zwischen Vertrag und dessen Ratifizierung, und dachte allen Ernstes, daß mit Gorbatschows Angebot der bedingungslosen, einseitigen Abrüstung, daß der Weltfrieden doch keine Fiktion, kein Wunschtraum sei, sondern bald schon Wirklichkeit würde, daß die Atomraketen ins Meer geworfen (Umweltschutzgedanken waren nicht so stark ausgeprägt) und Stacheldrahtverhaue abgebaut würden.

Und dann kam 1989. Anfang des Jahres kam es bei den Bürgerrechtlern zu einigen Verhaftungen, gleichzeitig kam es zu einer ganzen Reihe von entsprochenen Ausreiseanträgen in den gleichen Reihen, also vor allem bei Aktivisten der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung. Das war der Anfang vom Ende, aber was für ein Ende, und wie schnell es dann ging, und das die gleichen Bürgerrechtler schon zwei Jahre später schon nurmehr eine Fußnote der friedlichen Revolution und einen Überrest im Namen der Grünen darstellen sollten, damit war nicht zu rechnen. Jedenfalls, das Land zerfiel sehr plötzlich. Die Flüchtlinge in Prag, die Verhandlungen, der Besuch eines altersmilden und heimatsehnsüchtigen Honeckers im Saarland, das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, die offene Grenze bei Sopron in Ungarn, über die zu gehen schon beinahe zum guten Ton gehörte - Gehirn und Welt einer Elfjährigen geraten durcheinander, nichts stimmt mehr, wer heute noch "rot" war, ist morgen "abgehauen", rübergegangen. In die vermeintliche Freiheit.

Am 7. Oktober wurdest du dann 40 Jahre alt, es gab allerlei Feierlichkeiten, aber eigentlich interessierte das schon keinen mehr. Der Zusammenbruch war keine Frage des ob mehr, sondern höchstens des wann und wieviel Tote. In Leipzig war der Teufel los, Verhaftungen und alles, in Berlin standen nervöse und bewaffnete Soldaten des Regiments Feliks Dzierzynski unbewaffneten, zahlreichen und laut entschlossenen Demonstranten gegenüber. Es wurde nicht geschossen. Am 4. November war der Alexanderplatz so schwarz vor Menschen, sie waren überall, die Straßenverläufe nicht auszumachen, Kinder saßen auf den Schultern ihrer Eltern, sicherlich waren überall Provokateure in Zivil unterwegs, aber nichts und niemand kann 1 Million Menschen auf dem Alexanderplatz in ihrem Tun aufhalten. Der Versprecher von Günter (Schabowski oder Mittag?) ein paar Tage später war nur noch Seidenband, Makulatur, Sahnehäubchen, und daß der Mensch träge ist, studiert man anhand der Tatsache, daß in der Nacht vom 9. zum 10. November nicht einfach ALLE Ostberliner nach Westberlin rübergemacht sind, obwohl viele befürchtet haben, daß das Loch wieder zugemacht wird - weil man es ja auch einfach nicht glauben konnte, daß es auf ist.

Das war der unblutige Garaus fürs Vaterland, alles andere waren nur noch Zuckungen im Todeskampf.

Jetzt habe ich ein neues Vaterland, na, so neu ist es natürlich auch wieder nicht, eigentlich habe ich das neue schon viel länger als früher das alte. Aber so ein altes Vaterland bleibt einem erhalten, vielleicht sogar, wenn mans gern loswerden wollte, oder dann erst recht. Ich habe große Teile meines Erwachsenenlebens mit unterschiedlichen Zufriedenheiten in Westdeutschland verbracht, aber in Berlin könnte ich nicht in den Westen ziehen. Ich würde nicht sagen, daß in der DDR alles gut war, aber das Märchen, daß es im Westen so viel besser, weil ehrlicher und demokratischer zugegangen sei, glaube ich auch nicht, weil es auch nicht glaubwürdiger wird, nur weil der Westen "gewonnen" hat. Ich will auch nicht, daß bei 24jährigen Sportlern oder Popstars der Umstand hervorgehoben wird, daß sie aus Ostdeutschland kämen (immerhin sind diese unleidigen Fünf neuen Länder endlich von der publizistischen Bildfläche verschwunden!), denn es ist kein größeres oder kleineres Verdienst, aus Anklam oder aus Tuttlingen zu stammen (letztere sind eher benachteiligt, weil sie kein hochdeutsch können).

Jetzt erleben ja deine Entwicklungen, liebes altes Vaterland, ungeahnte Renaissancen! Zehnjährige Gemeinschaftsschulen, Ganztagsschulen, Kinderkrippen und -gärten und administrative Vergabe der begehrten Studienplätze, das gabs doch alles schonmal schon, wurde aber beim Einigungsvertrag als untauglich abgelehnt. Das zu erwähnen soll keine späte Genugtuung ausdrücken, sondern lediglich zum sogenannten Nachdenken anregen.

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